Schulen sind Orte 'der größten Kränkung'

Studien über Amokläufer führen zu einem Ursachenkomplex,
in dem Gewaltspiele nur EIN Faktor sind.

Von Wolfgang Wiedlich

Bonn

Nach jedem Amoklauf oder -versuch bleibt großes Rätselraten: Warum? Nach inzwischen mehr als 100 Amok-
läufen weltweit seit dem Jahre 1966 und mit stark steigender Tendenz seit 1999 hat die Wissenschaft versucht,
dem Phänomen auf die Spur zu kommen.

Eine Überschrift, die alle Studien zusammenfasst, könnte lauten: Eine, DIE Ursache gibt es nicht, sondern hinter
jeder Tat steckt ein multikausaler Hintergrund. Dennoch haben Psychologen und Kriminologen rote Fäden auf-
gespürt.

Stets finden sich in Täteranalysen die gleichen Kernprobleme: Wesentliches fehlt dem Täter - Anerkennung,
Kontrolle über das eigene Leben, soziale Bezugspersonen, Einbindung in die Gesellschaft, dazu das Unver-
mögen, mit Kränkungen umzugehen.

Nach Frank Robertz, Leiter des Instituts für Gewaltprävention und angewandte Kriminologie in Berlin, sind Schu-
len deshalb besonders von Amokläufen betroffen, weil sie aus Sicht der Täter "der Ort der größten Kränkung"
seien.

Aus häufiger Frustration kann Aggression entstehen und daraus - als letzte Option - das Ventil Gewalt. Erst hier,
nach den sozialen Verhältnissen, kommen, so die Mehrheit der Studien, als ein Faktor Computerspiele ins Spiel,
insbesondere "Ego-Shooter"-Varianten, wo mit jedem virtuell Getöteten der Punktestand steigt.

Ihre Befürworter heben hervor, dass solche Spiele die Auge-Hand-Koordination fördern, aber die US-Armee,
sagt Christian Pfeiffer, Leiter des Kriminologischen Instituts Niedersachsen, setze sie zum Soldatentraining ein,
um Tötungshemmungen zu überwinden. Es sei absurd zu behaupten, dass der Konsum gewalthaltiger Medien
keine Folgen habe. Fast einig sind sich alle Studien darin, dass der Konsum solcher Computerspiele aus psy-
chisch stabilen Menschen keine Mörder mache, die Medienwirkung aber bei psychisch gefährdeten Jugendli-
chen durchaus gewisse Einstellungen und Bereitschaften wecke.

Eine weitere Erkenntnis: Amokläufe sind keine spontanen Taten, sondern langfristig und im Detail geplant. Des-
halb hält Herbert Scheithauer, Leiter eines Forschungsprojektes der Berliner Freien Universität zum "School-

Shooting',

es auch für sinnlos, strengere Waffengesetze zu fordern.

Aber: Die lange Planung der

Tat bedeutet eine Phase, in der der Planende Warnsignale sendet. Das führt zurück zur Schule.

Eine Studie von Psychologen der TU Darmstadt und der TU Berlin, die alle Amokläufer Deutschlands bis 2006
analysierte, listet die Risikofaktoren auf: Kränkungen, soziale Brüche, Verlusterfahrungen, wachsende soziale
Isolation bis zum Tat-Zeitpunkt, bei vier von sieben Tätern konnte ein Vorbild aus gewalthaltigen Mediendarstel-
lungen bestimmt werden.

Mit-Autor Jens Hoffmann: "Diese schrecklichen Taten sind immer von Warnsignalen begleitet." Die von Hoff-
mann entwickelte DYRIAS-Software ist ein Versuch, Warnsignale frühzeitig auszuwerten. Sie vergleicht Informa-
tionen über verhaltensauffällige Schüler mit denen über reale Amokläufer. In Zürich läuft DYRIAS gerade in ei-
nem Pilotprojekt.

Doch vor der Eingabe von Stichworten in ein Computerprogramm steht die Wahrnehmung einer Verhaltensauf-
fälligkeit. Daran scheint es in Deutschland, wo nach den USA die meisten Amokläufe stattfinden, zu hapern. Ein
Schulpsychologe kommt auf rund 12 000 Schüler. Diese Zahl zu erhöhen, mag ein Mittel sein, aber es ersetzt
nicht das Grundmanko: Der Humus der Taten besteht aus gesellschaftlichen und sozialen Fehlentwicklungen.

Artikel vom 12.05.2009

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